Ich spreche ausschließlich von „Tätern“. Mir ist bewusst, dass auch Frauen sexualisierte Gewalt ausüben und dies weit häufiger als angenommen. Der prozentuale Anteil ist allerdings so gering, so dass die Realität verzerrt würde, spräche ich von Täter_innen.

Mir ist die damit einhergehende Problematik bewusst, dass sich einige, die Gewalt durch Frauen erlebt haben, unsichtbar fühlen können.
Ich bin mit der jetzigen Lösung auch nicht wirklich zufrieden, sie erschien mir aber als das kleinere Übel.

Sonntag, 12. Januar 2014

Mit dem Scheiß leben müssen


Mit dem Scheiß leben müssen

Sexualisierte Gewalt erlebt zu haben, bedeutet nicht nur mit dem Verbrechen und den Folgen leben zu müssen. Es bedeutet sehr häufig auch, damit leben zu müssen, dass die Täter ungestraft davon kommen. Wer an Gott glaubt, kann immerhin noch auf höhere Gerechtigkeit hoffen. Viele finden erst Jahre später den Mut über die Tat(en) zu sprechen oder sie haben das Geschehene so weit verdrängt, dass sie sich erst Jahre oder Jahrzehnte später daran erinnern. Bei sexualisierter Gewalt ist die Beweislage ohnehin schwierig, weil in der Regel nur der Täter und das Opfer anwesend sind. Ist die Tat schon Jahre her, ist es noch schwieriger, da es keine Spuren mehr gibt. Juristisch/rechtsstaatlich ist das Problem aber ohnehin nicht zu lösen. Sexualisierte Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem und kann somit nur gesamtgesellschaftlich gelöst werden. Dennoch bin ich dafür, die Verjährungsfristen für Sexualdelikte aufzuheben, um ein Zeichen zu setzen und Betroffenen die Möglichkeit zu geben den Täter anzuzeigen und Schmerzensgeld einzuklagen.

Der Umgang der Gesellschaft mit dem Thema sexualisierter Gewalt ist geprägt von Widersprüchlichkeit. Sexualisierte Gewalt im allgemeinen und sexualisierte Gewalt an Kindern im Besonderen, werden von der Gesellschaft als die schlimmsten Verbrechen überhaupt angesehen. Für kein anderes Verbrechen wird regelmäßig die Todesstrafe gefordert, nicht einmal für Mord. Bis zum Erbrechen wird wiederholt,Missbrauch bedeutet immer lebenslänglich für die Opfer (wir selbst nennen uns Betroffene oder Überlebende). Auf der anderen Seite wird in den meisten Fällen nicht einmal das mögliche Strafmaß ausgeschöpft, selbst wenn die Tat nicht strittig ist. Ersttäter kommen meist mit Bewährungsstrafen davon, es sei denn, es handelt sich um besonders „schwere Fälle“. Auch der Umgang mit den Überlebenden könnte widersprüchlicher nicht sein. Es gibt nicht genügend Therapeut_innen, die auf sexualisierte Gewalt spezialisiert sind. Ebenso sind viele hilfreiche Therapiemethoden von den Kassen nicht anerkannt. Therapien werden auch nicht unbegrenzt bewilligt, das heißt, es wird erwartet, dass Betroffene innerhalb eines bestimmten Stundenkontingents genesen. Viele Betroffene sind zudem arbeitsunfähig oder verlieren ihre Arbeitsplätze, weil sie zu oft und zu lange krankgeschrieben sind, weil sie sich zum Beispiel für mehrere Monate im Jahr in stationären Therapieeinrichtungen befinden.

Die Empörung über das Verbrechen hält meist nur so lange an, wie die Betroffenen abstrakt und weit entfernt sind. Dringt das Grauen in den persönlichen Nahbereich ein, kommt es häufig zu einer Veränderung. Oftmals setzt ein Beißreflex gegen die Betroffenen ein. Ihr Leid und ihr Elend sind nur so lange bemitleidens- und empörenswert, so lange sie nicht sichtbar sind. Sobald die Betroffenen Namen und Gesichter haben, ist es nicht mehr so schlimm. Die Betroffenen sollen sich nicht „anstellen“, sie sollen sich zusammenreißen. Sie sollen „was machen“ (Therapie). Dieser Satz kommt in der Regel, ohne dass sich zuvor erkundigt wurde, ob die Betroffenen aktuell in Therapie sind. Es wird einfach unterstellt, dass sie nichts „machen“, denn sonst hätten sie ja keine Probleme. Sie sind also selbst schuld. Die Verantwortung wird auf das Opfer übertragen. (Dies sind Beispiele aus dem realen Leben und nicht etwa aus dem Internet, wo die Menschen bekanntlich jede Hemmung verlieren.)

Die Genesung von sexualisierter Gewalt ist nichts, wo man mal eben „was macht“. Der Genesungsprozess dauert meist viele Jahre, Jahrzehnte oder auch ein Leben lang.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Diese Verbrechen werden, ebenso wie der Massenmord an Tieren, jeden Tag begangen. Überall in Deutschland, mitten unter uns. Doch die Leute wollen es nicht sehen. Sie zeigen lieber mit dem Finger auf andere Länder und echauffieren sich über die dortigerückständige Kultur. Natascha Kampusch, die 1998 als zehnjährige von Wolfgang Priklopil entführt und mehr als acht Jahre lang gefangen gehalten wurde[13] bringt es auf den Punkt:

Diese Gesellschaft braucht Täter wie Wolfgang Priklopil, um dem Bösen, das in ihr wohnt, ein Gesicht zu geben und es von sich selbst abzuspalten. Diese Gesellschaft benötigt die Bilder von Kellerverliesen, um nicht auf die vielen Wohnungen und Vorgärten sehen zu müssen, in denen die Gewalt ihr spießiges, bürgerliches Antlitz zeigt. Sie benutzt die Opfer spektakulärer Fälle wie mich, um sich der Verantwortung für die vielen namenlosen Opfer der alltäglichen Verbrechen zu entledigen, denen man nicht hilftselbst wenn sie um Hilfe bitten.[14]

Kinder, denen sexualisierte Gewalt angetan wird, müssen meist mehrere Erwachsene ansprechen, bis ihnen jemand glaubt[15].

So wandte sich auch Andreas Huckele, ein ehemaliger Schüler der Odenwaldschule, bereits 1998 mit zwei Briefen an den damaligen Leiter der Odenwaldschule und im November 1999 berichtete die Frankfurter Rundschau erstmals über die Vorfälle[16]. Aber erst 2011 wurde das Thema medial aufgegriffen. Ein Jahrzehnt später!

Auch die Sicht auf die Täter verändert sich, sobald sie Gesichter und Namen haben. Josef Fritzl, der seine Tochter 24 Jahre lang in einem Kellerverlies eingesperrt hat[17] ist ein schlechtes Beispiel, weil er jedes Maß gesprengt hat. Bleiben die Täter aber imüblichenRahmen, sieht es anders aus. Nach der Verhaftung Roman Polanskis in der Schweiz[18] gab es viele Prominente, die sich für seine Freilassung einsetzten. Immer wieder fielen Sätze wie: Man darf bei all dem nicht vergessen, dass er ein großer Künstler istoderes ist lange her. Als würde es für die Opfer besser werden, wenn der Täter ein großer Künstler ist und nicht der Klempner von nebenan. Auch die Distanz zu Gerold Becker, dem ehemaligen Direktor der Odenwaldschule und Haupttäter (ihm werden 86 männliche Opfer zwischen 12 und 15 Jahren zugerechnet) [19], ist vielen schwergefallen. Becker gilt bei manchen noch immer alsPapst der Reformpädagogik.

Vergewaltigung - Mythos und Wirklichkeit

Ein weiteres Problem: Ist von Vergewaltigung die Rede, so ist meist das Klischee von Vergewaltigung gemeint. Das heißt eine junge, dem gängigen Ideal von schön entsprechende Frau von „tadellosem Ruf“ (also ohne „ausschweifendes Sexualleben“) wird ohne eigene „Schuld“ (sie war nicht spät abends allein unterwegs, sie trug keinen zu knappen Rock, hat nichts getan, um den Täter zu „provozieren“), Opfer eines fremden Täters. In diesem Fall – und nur dann – ist aus Sicht der Allgemeinheit, tatsächlich allein der Täter verantwortlich. In diesem Fall erfährt das Opfer breite Solidarität und Unterstützung. Dieses Vergewaltigungsklischee kommt in der Realität allerdings kaum vor. Vergewaltigungen werden überwiegend im sozialen Nahbereich verübt oder sind Beziehungstaten. Das macht gerade diesen Vergleich zusätzlich problematisch, da viele Betroffene unter genau dieser Diskrepanz leiden.

Mein erster Versuch das Problem zu thematisieren

Als ich im Herbst 2012 in einem Forum erneut auf einen Vergewaltigungsvergleich (mit Kindern) gestoßen bin, ist mir der Kragen geplatzt und ich habe geschrieben, was ich dabei empfinde. Was dann passierte, war eine 1:1 Reproduktion dessen, was sich innerhalb der „Normalgesellschaft“ abspielt.
Die Antworten auf meinen Beitrag habe ich in wohlwissender Voraussicht nicht gelesen. Eine Bekannte hat nach den ersten Sätzen der ersten Antwort aufgehört zu lesen, weil ihr schlecht wurde. Einige Zeit später beschwerte sich dann eine Person sowohl über den abfälligen Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt, als auch darüber, dass ich meinen Beitrag ohne Inhaltswarnung geschrieben hatte. Was darauf folgte, habe ich nur bruchstückhaft mitbekommen, weil es für mich nicht auszuhalten war und ich mich hilfesuchend an eine Freundin wandte, der ich in diesem Zusammenhang zum ersten Mal von meiner Vergangenheit erzählte. In einer Antwort auf den Beitrag wurde sich darüber lustig gemacht, dass die Person eine Inhaltswarnung erwartet hat: Es wurde mit “Ach Gottchen“ kommentiert und erklärt, dass man sich nicht mit meinem Standpunkt auseinandersetze, weil ich keine Tierrechtlerin sei (weil ich befürworte, sich auch für Verbesserungen für Tiere einzusetzen und nicht nur das Endziel im Auge habe). Ein anderer Kommentar unterstellte der Person, die mir beigesprungen war sogar, sie sei von Antivegan.

Das ist nichts anderes als die „Konstruktion der anderen“. Wer nicht dazu gehört, dem darf alles angetan werden. Der paternalistische, im Mensch-Tier-Verhältnis kritisierte Ton, wird hier auf den Menschen angewendet. Das „Opfer“ hat willig zu sein. Zwang wird ausgeübt. Das menschliche Opfer kann im Vergleich zum nichtmenschlichen zwar für sich sprechen, aber man will nicht hinhören. Was Betroffene denken und fühlen interessiert nicht, wenn es nicht ins eigene Weltbild passt. Auf diese Weise werden wir Betroffenen erneut entindividualisiert und verdinglicht. Wir werden instrumentalisiert. Wir werden missbraucht. Denn das Leid und das Elend hinter dem Verbrechen, dessen man sich als Verstärker bedient, interessiert nicht. Dennoch glauben einige offenbar, andere mit genau jenem Leid überzeugen zu können. Jenem Leid misshandelter Kinder, dass sie selbst negieren. Das ist verlogene Polemik. 

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